„Mein erstes Mal ist schon einige Zeit her. Es war im Herbst 2010. Ich war mit einer Kamera gekommen. Ich sollte dokumentieren, wie ein Bürgerrat – im konkreten Fall ein Jugendrat – abläuft. Was ich im Zuge dieses Bürgerrats aus der beobachtenden Rolle erleben durfte, löste etwas in mir aus, das ich erst mit der Ausbildung zum »DFer« voll und ganz begreifen konnte. Dazwischen lagen 6 Jahre und schließlich eine sehr intensive Ausbildung zum Dynamic Facilitation-Instructor im Zuge eines Mentorenprogramms bei Jim Rough.
Für mich bedeutet Dynamic Facilitation – in welchem Kontext auch immer – die Stärkung des Individuums, zur Stärkung der Gemeinschaft. Im speziellen Fall des Bürgerrats bedeutet es, dass wir mit DF ein Tool an der Hand haben, mit dem wir Menschen unterstützen, sich von alten, limitierenden Denkweisen zu verabschieden. Von der passiven Rolle, einer Konsumhaltung findet eine Entwicklung hin zum aktiven Gestalter der jeweiligen Umwelt statt.
Dabei steht bei Dynamic Facilitation nicht etwa das große Ganze, das Wohl der Gruppe, dem es sich etwa unterzuordnen gilt, im Fokus. Ganz im Gegenteil wird bei Dynamic Facilitation das Individuum mit all seinen Ängsten, Sorgen und Nöten in den Mittelpunkt gestellt. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer eines Bürgerrats darf sich mitteilen, soll sagen was zu sagen ist. Dabei schützt die Form der Moderation mit Dynamic Facilitation vor direkten Angriffen und ermöglicht so ein Gespräch in tiefer Vertrautheit.
Menschen, die sonst mit ihrer Meinung zurückhaltend sind, da sie gelernt haben, dass die Meinungsäußerung mit Unannehmlichkeiten oder sogar Sanktionen verbunden sein könnte, erleben Respekt und Anerkennung für ihren Beitrag. Sie werden gehört. Und alle diese gehörten und gesagten Dinge werden mitgeschrieben. Nichts geht verloren. Für alle sichtbar stehen Informationen, Bedenken, Problemstellungen und Lösungsansätze auf den Flipchartbögen. Es wird nicht argumentiert, vielmehr werden alle Aspekte und Sichtweisen zusammengetragen und als Ressource zur Lösungsfindung in die Runde gelegt. Das macht etwas mit den Menschen. Das geht tiefer, vor allem auch emotional tiefer, als es eine fachliche Diskussion jemals könnte.
Nach zwei Tagen des Dialogs in dieser Form ist die Gruppe zusammengewachsen, hat verborgene Nischenrealitäten kennengelernt und miteinander und voneinander gelernt: Respekt, Anerkennung, Vertrauen und die Gewissheit, Probleme aus eigenem Antrieb – gemeinschaftlich – zu lösen.
Nun ist es so, dass der Bürgerrat keine Entscheidungskompetenz besitzt. Es ist ein konsultatives Gremium, das sich nach dem Bürgerrat wieder auflöst und in einer neuen Konstellation, wiederum per Zufall aus der Gesamtbevölkerung ausgewählt, zusammenkommt, um eine der großen gesellschaftlichen Fragestellungen einer Lösung zuzuführen. In diesem Sinne ist ein behutsamerer Umgang seitens der Politiker und Politikerinnen mit den Ergebnissen von oberster Priorität. »Polites« beschriebt denjenigen der sich für die Bewohner des griechischen Stadtrates, der Polis, einsetzt. Der Politiker ist demnach den Bürgern verpflichtet.
Bevor die Politik einen Bürgerrat einberuft, muss sie sich also selbst die Frage stellen, für wen sie Politik macht und ob sie den Mut besitzt, die Lösungen des Bürgerrats mit Achtung und Anerkennung aufzunehmen. Das bedeutet Haltung als Politikerin und Politiker einzunehmen und diese auch zu wahren.
Der Bürgerrat liefert ein Stimmungsbild der Gesamtbevölkerung. Diesen Sachverhalt mit halbseidenen Argumenten zu ignorieren wäre fatal, denn es führt in eine negative Assoziationskette der Bürgerbeteiligung – in eine Partizipationsfalle. Anstatt aus der Bürgerbeteiligung Kraft zu ziehen, wird die Zivilgesellschaft geschwächt und noch mehr das alte Opfer – Täter Schema aus Die-Da-Oben und Wir-Armen-Da-Unten bedient. Umso mehr gilt es die mediale Berichterstattung in die Bürgerräte einzubeziehen. Die Medien könnten als korrektiv auftreten. Ich plädiere daher dafür, den Medien den Bürgerrat schmackhaft zu machen, da er neue Narrative hervorbringt, die nicht auf Schwarz-Weiß-Malerei aufbauen, sondern den Weg über Verantwortung, Vertrauen hin zu gemeinschaftlich getragenen Lösungen geht.“